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ME/CFS: Im toten Winkel des Gesundheitssystems

ME/CFS steht für Myalgische Encephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Betroffene leiden auf vielen Ebenen: Sie sind körperlich krankhaft entkräftet, haben Schmerzen, leiden unter Reizüberempfindlichkeit, sind mental schnell kraftlos und sozial isoliert. Denn die Öffentlichkeit und viele Ärzte kennen die Krankheit nicht ausreichend oder befassen sich nicht umfänglich damit. Der Grund: Eine klare Diagnostik und Abgrenzung zu anderen Erkrankungen ist schwer – auch, weil noch kein Biomarker gefunden wurde, der ME/CFS charakterisiert. Seit Jahrzehnten wird die Krankheit übersehen, die Menschen allein gelassen.

„Es ist, als hätte jemand bei meinem Kind den Stecker gezogen“, so beschreibt Ellen Mertens* die Situation bei ihrer 20-jährigen Tochter Jana*, die vor acht Jahren an ME/CFS erkrankte. Sie konnte zusehen, wie Janas Energie immer weniger und die Symptome immer stärker wurden: Kopfschmerzen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Komplettausfälle des Bewegungsapparates, Atemaussetzer und Licht- sowie Reizunverträglichkeit sind nur einige. Seit Jahren kämpft Mertens um die Anerkennung der ME/CFS als schwere körperliche Erkrankung, leider mit wenig Erfolg. Sie bekomme nicht nur keine Hilfe, sondern werde außerdem beschimpft, am Münchhausen-by-proxy Syndrom zu leiden, erzählt sie. Jana hat Pflegegrad 4, seit 2018 liegt sie im abgedunkelten Zimmer, verträgt keine Musik, keinen Besuch mehr, nach jeder Mahlzeit muss sie wieder ausruhen. Die Mutter gab den Beruf auf, pflegt nun ihre Tochter Tag und Nacht, ein Ende ist nicht abzusehen. „Ihr stand aufgrund ihres Wissensdurstes und der guten Noten die ganze Welt offen“, so Mertens, „jetzt ist ihre ganze Zukunft ein großes Fragezeichen.“

Postexertionelle Malaise (PEM) als Kardinalsymptom

Vor 70 Jahren wurde die Erkrankung erstmals in einem Krankenhaus in London beschrieben. Damals erkrankten mehrere Hundert Angestellte an grippeähnlichen Symptomen, von denen ein kleiner Teil eine Art Muskelschwäche erlitt und nicht mehr gesund wurde. Manche Fachleute vermuteten ein Virus, das eine chronische Entzündung im Gehirn auslöst, andere sprachen von Massenhysterie. Dabei ist die Krankheit relativ häufig: In Deutschland waren vor der Covid-19-Pandemie rund 300.000 Menschen von ME/CFS betroffen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung stellte bereits für das Jahr 2021 einen Anstieg auf knapp 500.000 fest, Tendenz steigend. In Baden-Württemberg geht man von 30.000 Fällen aus, weltweit sind es etwa 17 Millionen. Frauen trifft sie bis zu viermal häufiger, vor allem zwischen dem 15. und 40. Lebensjahr. Viele erkranken jung und aus voller Gesundheit heraus, werden aus ihrem Alltag gerissen und erleben eine dauerhafte seltsame Entkräftung, die durch Ruhe nicht besser wird. 60 Prozent sind nicht mehr arbeitsfähig und jeder Vierte ist so schwer krank, dass er das Bett nicht mehr verlassen kann und Pflege braucht. Aber auch bei den moderat Betroffenen ist die Lebensqualität stark reduziert. ME/CFS ist eine komplexe chronische Multisystemerkrankung mit hoher Krankheitslast. Die Symptome reichen von „Hirnnebel“ oder Brain Fog (Kreislauf-, Konzentrations- und Wortfindungsstörungen) über Herzrasen, Schwindel, grippeähnliche Schmerzen in Kopf, Gliedern, Bauch bis hin zu Muskelschwäche, Schlafstörungen und Überempfindlichkeit auf Sinnesreize wie Licht oder Geräusche. Das Hauptsymptom ist die Postexertionelle Malaise (PEM), die aufgrund einer Belastungsintoleranz entsteht und bei der bereits bei leichter körperlicher oder geistiger Anstrengung eine massive Verschlechterung der Symptome eintritt. Die PEM kommt manchmal erst ein bis zwei Tage später und kann Tage, Wochen oder dauerhaft anhalten.

Häufig virale Infektion als Auslöser

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Gerhard Heiner gründete die Initiative ME/CFS Freiburg zur Anerkennung, sozialen Sicherung, Behandlung und Erforschung und kämpft für mehr Aufklärung rund um die schwere Erkrankung. © Gerhard Heiner, privat

Vieles spricht im Falle von ME/CFS für eine organische Autoimmunerkrankung, die bei etwa zwei Drittel der Betroffenen durch eine vorangegangene Virusinfektion ausgelöst wird. Dabei kann der Infekt durch Influenza, Covid-19, Epstein-Barr oder Herpesviren auch leicht verlaufen. Ob das Virus im Körper verbleibt, eine fortdauernde Aktivierung des Immunsystems bewirkt und sich Autoantikörper gegen körpereigene Strukturen bilden, ist noch ungeklärt.

Bei Felix*, der seit 2018 moderat an ME/CFS erkrankt ist, vermuten die Eltern eine Grippe als Auslöser. Sein Vater, Gerhard Heiner, gründete die „Initiative ME/CFS Freiburg zur Anerkennung, sozialen Sicherung, Behandlung und Erforschung“, da auch er kaum Hilfe für seinen Sohn bekam und ein öffentliches Bewusstsein für die Krankheit schaffen wollte. Erkrankte haben oft schon eine lange Ärzte-Odyssee hinter sich und bereits etliche Fehldiagnosen von Medizinern erhalten, die die Symptome psychosomatisieren oder bagatellisieren. „Viele Ärzte kennen die Krankheit gar nicht oder verleugnen sie“, sagt Heiner, „dabei ist sie seit 1969 von der WHO ganz klar als neuroimmunologische Erkrankung unter G93.3 gelistet.“ Fatal ist, dass die Patienten neben schädlichen Fehltherapien auch öffentliche Stigmatisierungen erfahren und wegen fehlender Diagnose und Anerkennung durch sämtliche Raster der Kranken- und Pflegeversicherung und der sozialen Sicherungssysteme fallen. Es fehle an finanzieller Unterstützung, medizinischer Hilfe und somit potentieller Versorgungsmöglichkeiten sowie Aufklärung, meint Heiner.

Unwissenheit führt zu kontraindizierten Therapien

Professor Dr. Patrick Gerner_ME/CFS
Spricht sich gegen aktivierende Maßnahmen bei ME/CFS aus: Prof. Dr. Patrick Gerner, Chefarzt an der Kinderklinik Ortenau am Ortenau Klinikum Offenburg. © Prof. Dr. Patrick Gerner, privat

Die Patienten mit ME/CFS sind generell nicht psychisch krank oder depressiv, sie haben auch keine Angststörung und vor allem bilden sie sich ihre Bewegungsunfähigkeit nicht ein. Die Muskulatur ist nachweislich geschwächt und das Immun-, Hormon- und Nervensystem sind völlig fehlreguliert. Als Sekundärschäden können durch die Belastung allerdings psychische Erkrankungen oder zumindest der Wunsch nach psychologischer Begleitung entstehen. Der von vielen Ärzten (vielleicht gutgemeinte) Rat, sich zu entspannen, rauszugehen und zu trainieren, kann eine massive Symptomverschlechterung nach sich ziehen. „Bei anderen Fatigue-Erkrankungen finden generell aktivierende Therapien in der Reha-Klinik statt“, sagt Prof. Dr. Patrick Gerner, Chefarzt der Kinderklinik Ortenau am Ortenau Klinikum in Offenburg, „die sind aber hier kontraindiziert. ME/CFS ist eine Erkrankung mit Fatigue, bei der man keine Aktivierung vornehmen sollte.“ Über die Grenzen gehen, sich zur Anstrengung zwingen, kann bei den Patienten zu einem Crash führen, einem Totalzusammenbruch, bei dem dann manchmal monatelang gar nichts mehr geht und der zu einer dauerhaften Zustandsverschlechterung führen kann. Medikamente und zielgerichtete Behandlung gibt es nicht. Die Betroffenen müssen lernen, wie sie ihren Zustand stabil halten und die Symptome lindern können. Oft helfen nur noch Schmerzmittel und Ruhe.

Gerner kannte die Krankheit bis vor einem halben Jahr selbst nicht. Nun versucht er, zu helfen, wo er kann. Sein Konzept für ein Kompetenzzentrum zur stationären Behandlung von ME/CFS-erkrankten Kindern und Jugendlichen in Offenburg kann jedoch momentan vom Sozialministerium nicht finanziert werden. „Die Haupttherapie ist sicher das Pacing. Die Patienten müssen absolut restriktiv ihre eigenen Grenzen einhalten, damit sich ihr Akku wieder ganz langsam füllen kann.“ Der Grundgedanke von Standardtherapien wird dabei übertragen: Körperliche und mentale Anstrengung werden so dosiert, dass akute oder chronische Überlastung vermieden wird.

Diagnostik im Grunde möglich

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Mit einem Handkraftmessgerät lässt sich die abnehmende Muskelkraft ME/CFS-Erkrankter zu zwei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten gut dokumentieren. © Anja Hagemann, Berliner Charité

Aufgrund der fehlenden Aufklärung und schwierigen Diagnostik ist ME/CFS derzeit eine Art blinder Fleck. Gutachter zur Feststellung des Pflegegrads haben nicht im Blick, dass der Patient sich bei der Begutachtung nicht in seinem schlechtesten, sondern „besten“ Zustand befinden könnte. Die Diagnose ist nur über Symptome möglich und diese müssen seit mindestens sechs Monaten bestehen mit belastungsinduzierter Symptomverschlechterung. Werden die Patienten durchgecheckt, so finden die Ärzte oft nichts Ursächliches und sind ratlos. Denn es gibt keinen Biomarker, der zweifelsfrei auf ME/CFS schließen lässt – noch nicht! Nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft ME/CFS lässt sich die Erkrankung anhand der Kanadischen Konsenskriterien ebenso gut feststellen, wie andere auch, für die es keine Labortests gibt. PEM ist per Anamnese diagnostizierbar und ein Handkraft-Test zeigt ein messbares Absinken der Muskelleistung nach erfolgter Anstrengung. Ähnlich beim 2-day-CPET (Cardio-Pulmonary-Excercise-Test), bei dem die Sauerstoffkapazität bei Wiederholung nach 24 Stunden deutlich verringert ist. Klinisch kann ein verminderter cerebraler Blutfluss nachgewiesen werden, der etliche Symptome erklären könnte.

Covid-19-Pandemie verändert Fokus

Überschneidungen ME/CFS _Long-Covid
Einige Befunde waren schon für ME/CFS nachgewiesen, bevor sie im Pandemie-Jahr 2021 für Long Covid ebenfalls gezeigt wurden. © Deutsche Gesellschaft für ME/CFS

Die Studienlage zu ME/CFS vor der Pandemie war prekär, zum Teil ist sie es noch. Eine Studie aus den USA stellte fest, dass ME/CFS gemessen an der Krankheitslast bei weitem die wenigsten Forschungsgelder bekommt. Dies steht in starkem Ungleichgewicht zu den hohen sozioökonomischen Kosten, die durch sie verursacht werden. Da jedoch Post-Covid und ME/CFS frappierende organische Gemeinsamkeiten aufweisen und Covid-19 als der häufigste Trigger für ME/CFS gilt, scheint sich die Lage derzeit zu ändern. Inzwischen wird ME/CFS als die schwerste Folge der Covid-Infektion wahrgenommen. An der Berliner Charité und an der TU München forschen Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen und Prof. Dr. Uta Behrends bereits seit Jahren zu ME/CFS. Nun hat das Bundesministerium eine Nationale Klinische Studiengruppe (NKSG) aus acht Projekten mit 10 Millionen Euro sowie ein Verbund aus fünf Projekten (IMMME, Immune Mechanisms of ME) mit 2,1 Millionen Euro gefördert. Ziel: Aufklärung der Krankheitsmechanismen, die der ME/CFS zugrunde liegen und Entwicklung von Medikamenten. Scheibenbogen forscht beispielsweise zu Autoantikörpern, die bei 30 Prozent der Erkrankten erhöht sind. Diese Autoantikörper binden an körpereigene Rezeptoren und stören so deren Signalübertragung. Einer der Rezeptoren ist für die Gefäßerweiterung wichtig und damit für die Blutzirkulation, die bei ME/CFS-Patienten nachweislich gestört ist. Damit lassen sich viele Symptome erklären. Mit einer experimentellen Immunadsorption, bei der die Autoantikörper blockiert oder entfernt werden, hat die Professorin schon gute Ergebnisse erzielt. Scheibenbogen geht davon aus, dass die Krankheit gut behandelbar sein wird, da keine Organe geschädigt sind, sondern eine Funktionsstörung vorliegt. Ob die Autoantikörper oder andere Mechanismen ursächlich bei der Erkrankung eine Rolle spielen, müssen weitere Studien zeigen.

Hoffnung auf Anerkennung

Die Forschung bündeln und eine Task Force zu ME/CFS einrichten, in der Kliniken, Ärzte, Politiker, Kranken- und Pflegekassen, Schulen und Betroffene mit ihren jeweiligen Expertisen zusammenarbeiten und Synergien bilden – das wünschen sich Mertens und Heiner dringlich. Die Zeichen stehen nicht schlecht. Aber vor allem wollen sie das Thema in die Öffentlichkeit bringen. „Wir brauchen eine richtige Aufklärungskampagne inklusive einer Schulung der Ärzteschaft“, meint Heiner. Auch die Betroffenen dürfen nicht allein gelassen werden und brauchen Anlaufstellen. „Es dreht sich alles um die Anerkennung der Krankheit“, sagt Mertens, die schon froh wäre, wenn man ihr keine Steine mehr in den Weg legen würde und sie ist sicher: „mit dem richtigen Medikament ist meine Tochter wieder im Leben.“

*Namen auf Wunsch der Betroffenen geändert

Quellen:

Studien

Bundestag

Seiten-Adresse: https://www.forum-gesundheitsstandort-bw.de/infothek/news-presse/mecfs-im-toten-winkel-des-gesundheitssystems