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TEDIAS

Mehr Zeit für ärztliche Behandlung: Digitale Anamnese-Systeme ebnen der Klinik der Zukunft den Weg

Das Warten in einer Notaufnahme kann Zeit in Anspruch nehmen, sofern das Anliegen nicht als äußerst dringlich eingestuft wird. Wie Wartezeit mithilfe digitaler Lösungen im Sinne der Behandlung genutzt werden kann, erläutert Dr. Jens Langejürgen vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA). Der Diplom-Physiker leitet den Aufbau des Test- und Entwicklungszentrums für digitale Anamnese-Systeme – kurz: TEDIAS.

Mit seinem Team hat Dr. Jens Langejürgen vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) zunächst alle Prozesse untersucht, die Patientinnen und Patienten nach Ankunft im Krankenhaus erwarten. Dabei ließen sich erhebliche Optimierungspotenziale entdecken. Diese liegen vor allem im Bereich der medizinischen Aufnahme, die nach der Anmeldung erfolgt. „Bis es zur medizinischen Aufnahme kommt, haben Sie in der Regel eine Zeit in der Wartezone verbracht. Werden Sie dann vom Arzt empfangen, versucht er zunächst, wichtige Informationen zu erhalten, zum Beispiel in Bezug auf Vorerkrankungen“, erläutert Dr. Langejürgen, der die Abteilung für Klinische Gesundheitstechnologie leitet. „Diese Standardprozesse binden mitunter sehr viel ärztliche Expertenzeit, denn alle Daten müssen dokumentiert werden. Dadurch hat der Arzt weniger Zeit für die Interaktion mit dem Patienten.“

Ein weiteres Problem, das Dr. Langejürgen schildert: Die aufgenommenen Daten lägen bisweilen anschließend zunächst in einer Form vor, auf die nicht alle im weiteren Verlauf beteiligten Parteien Zugriff haben. Das bedeutet: „Der nächste Arzt oder Pfleger, zu dem ich komme, stellt mir die gleichen Fragen wieder.“ Auch dadurch sei Unmut vorprogrammiert. „Wenn diese Datenprozesse nicht vernünftig ablaufen, habe ich die gesamte ‚Patientenreise‘ hindurch ein Problem“, so Dr. Langejürgens Analyse. „Um dem entgegenzuwirken, haben wir ein digitales Patientenaufnahmesystem entwickelt. Dieses ist als ein Zentrum konzipiert, in das weitere Techologien, die mit der Zeit entwickelt werden, eingebunden werden können.“ So entsteht ein stetig wachsendes, vernetztes System.

Per Tablet wird die Wartezeit sinnvoll genutzt

Mit TEDIAS hat Dr. Langejürgen zweierlei Lösungen für die Herausforderungen entwickelt: Die eine besteht darin, dass Kranke, die mit einem akuten Anliegen selbstständig in die Notaufnahme kommen, in der Wartezone bereits Angaben zu ihrer Gesundheit in ein personalisiertes Tablet eingeben. Viele Fragen, die zur medizinischen Aufnahme gehören, werden so bereits im Vorfeld digital beantwortet. Ergo: Die Wartezeit wird sinnvoll genutzt, in der späteren medizinischen Aufnahme bleibt dem oder der Behandelnden somit mehr Zeit für die persönliche Interaktion.

Auch können die Angaben Ärztinnen und Ärzten dabei helfen, frühzeitig Entscheidungen zu treffen: Denn die Informationen aus dem Tablet werden sofort in ein System überspielt, auf das das medizinische Personal zugreifen kann, während die Patientin oder der Patient sich noch in der Wartezone befindet. „Die Ärzte sehen dann bereits, welcher Patient an einen Fachkollegen weiterverwiesen wird oder mit welchem Anliegen und welcher Krankengeschichte Patienten warten“, so Dr. Langejürgen.

Ein Avatar hilft in der Aufnahmekabine

Während der Gebrauch eines Tablets den meisten vertraut ist, geht Dr. Langejürgen bei der Aufnahme elektiver Patientinnen und Patienten technologisch einen großen Schritt weiter. Es handelt sich hierbei um Patientinnen und Patienten, die mit einem Termin für eine geplante Prozedur ins Krankenhaus kommen. Für diese Fälle wird das digitale Aufnahmesystem um eine Aufnahmekabine erweitert, genauer: um einen speziell designten Stuhl. Darin ist Messtechnik verbaut, mit der die zu Behandelnden auf eigenen Wunsch bereits im Vorfeld des Arztgesprächs selbst relevante Gesundheitsdaten verfügbar machen können. „Das Ganze funktioniert unkompliziert und erfordert keinerlei technisches Know-how“, so Dr. Langejürgen. Wer sich auf den Stuhl setzt und seine Hand auf eine bestimmte Stelle legt, kann über integrierte Elektroden die Herzfrequenz messen lassen. Wo der Finger liegt, befindet sich wiederum ein Sensor, der automatisch die Sauerstoffsättigung des Blutes bestimmt. Auch Gewicht, Kraft und Temperatur können gemessen werden. Auch für die korrekte Benutzung des Stuhls ist gesorgt: Während des Prozesses kommuniziert ein Avatar mit der Patientin oder dem Patienten. „Der Avatar kann nach unseren Vorstellungen auch so aussehen wie der Arzt, der den Patienten später behandelt. Er soll auch richtig auf den Gesprächsverlauf eingehen können und nicht wie ein ‚Chatbot‘ agieren, der nur vorgefertigte Sätze abspult“, so der TEDIAS-Entwickler.

Patientinnen und Patienten nutzen ihre Wartezeit also aktiv für die Gewinnung relevanter Daten und sorgen damit innerhalb des Aufnahmeprozesses für einen Zeitgewinn – ein Bonus, der im anschließenden Arztgespräch spürbar wird. Denn die Informationen werden ausgewertet, aufbereitet und der Ärztin bzw. dem Arzt in einer übersichtlichen Kurzfassung zur Vorbereitung auf das Gespräch vorgelegt. „Die 45 Minuten, die der Arzt sonst für Vorgespräch mit dem Patienten, das Einlesen in seine Daten und deren Dokumentation braucht, kann er jetzt viel effizienter direkt mit dem Patienten verbringen. Er kann zum Beispiel intensiver auf die Fragen des bereits vorbereiteten Patienten eingehen und ihm persönlich nochmal genau erklären, wie die Abläufe sein werden. Der Patient fühlt sich so viel besser in den ganzen Prozess eingebunden.“

Spannende Perspektiven für die Industrie in Baden-Württemberg

Maßgeschneiderte Lösungen für TEDIAS eröffnen der Industrie in Baden-Württemberg spannende Perspektiven: „Hersteller von medizinischer Messtechnik, medizinischen Fragebögen oder Avatar-Lösungen können im Rahmen einer Studie ihre Systeme in unserem Test- und Entwicklungssystem ausprobieren und weiterentwickeln“, konkretisiert Dr. Langejürgen. „Und zwar in einem System, das stetig weiter wachsen kann und keine Insellösung darstellt.“

Die automatisierte Erstuntersuchung sieht der Experte zudem als Beginn einer langfristigen Entwicklung: „Wir schaffen eine Basis, auf der wir nach und nach ein digitales Krankenhaus heranbilden können. Die Durchgängigkeit der Daten und die gleichbleibend hohe Qualität helfen nicht zuletzt dabei, den Verlauf von Erkrankungen frühzeitig erkennen und darauf reagieren zu können.“

Förderung durch die Landesregierung

Das Testzentrum wurde an der Universitätsmedizin Mannheim eingerichtet und soll im September 2022 den Betrieb aufnehmen. Im November 2022 wird es vom Test- in den Patientenbetrieb wechseln. Unter dem Dach des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg fördert das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg das Projekt mit knapp 3,7 Millionen Euro. Weitere Projektbeteiligte sind das Mannheim Medical Technology Cluster, die Medizinische Fakultät und die Universitätsklinikum Mannheim GmbH.

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