Wer heute am Universitätsklinikum Freiburg (UKF) als Patientin oder Patient an einer klinischen Studie teilnimmt, bekommt es mit allerhand Papier zu tun: Ein Medikamententagebuch muss geführt werden, Patientenfragebögen sind auszufüllen, Einwilligungen müssen erteilt werden – alles läuft auf Papier-Formularen. Auch das Rekrutieren von Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern geschieht in Freiburg wie in anderen Studienzentren vornehmlich analog, was die Mitarbeitenden einiges an Zeit kostet. Das geht besser, haben sich Freiburger Wissenschaftlerinnen deshalb gedacht – und das Projekt „digitale ECTU” ins Leben gerufen.
ECTU steht für „Early Clinical Trial Unit“ und ist eine 2012 gegründete Einheit am Universitätsklinikum Freiburg, die sich Arzneimittelstudien der Phasen I und II, also den frühen Phasen der Medikamentenentwicklung, verschrieben hat. Hier werden jährlich – in Zusammenarbeit mit der forschenden Pharmaindustrie – mehr als 20 Studien zu Krebsmedikamenten durchgeführt. Organisatorisch ist die ECTU an die Klinik für Innere Medizin I, Hämatologie, Onkologie und Stammzelltransplantation angedockt, zudem ist sie integraler Bestandteil des Tumorzentrums Freiburg und kooperiert mit dem Zentrum für Klinische Studien.
„Die Entwicklung neuer, effektiver und sicherer Therapien ist eine der dringlichsten Aufgaben der Krebsforschung”, erklärt Dr. phil. Britta Lang, MSc (OPEN), Leiterin des Zentrums für Klinische Studien. Frisch entwickelte Substanzen müssen nach der präklinischen Phase auf Verträglichkeit, Sicherheit und Wirksamkeit am Menschen überprüft werden. „Patienten, die neue Wirkstoffe aufgrund ihrer Krebserkrankung bekommen, brauchen eine ganz besondere klinische Betreuung”, so Lang. Eine hochmoderne Einrichtung wie die Freiburger ECTU könne dies leisten. „Hier arbeitet ein spezialisiertes und studienerfahrenes medizinisches Team, außerdem gibt es hier einen kompetenten Support im Bereich der Qualitätssicherung, die immer auf den optimalen Schutz der Patientinnen und Patienten sowie die Einhaltung der dafür geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen abzielt.”
Digitalisierung für den gesamten Lebenszyklus einer Studie
Nun sollen die einzelnen Prozesse dieser Studien mehr und mehr digitalisiert werden. „Genau genommen kann der gesamte Lebenszyklus einer Studie digital abgebildet werden”, erklärt Prof. Dr. Dr. Melanie Börries. Die Professorin leitet das Institut für Medizinische Bioinformatik und Systemmedizin an der Uniklinik Freiburg, forscht hier unter anderem zu Big Data, Krankheitsbiomarkern, Therapieoptionen auf Basis von Machine Learning und zu Strategien der innovativen Patientenversorgung. Sie verantwortet zudem die Freiburger Innovation und Translation Hubs, die durch verschiedene Projekte, gefördert durch das Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg, therapeutische Konzepte optimieren sollen. Die digitale ECTU gehört dazu.
Dass es bei dem Projekt um mehr geht als die Digitalisierung von bislang auf Papierbasis abgewickelten Vorgängen, ist Börries wichtig: „Die Entwicklung einer digitalen ECTU wird landesweite Rekrutierungs- und Qualitätsmanagement-Systeme ermöglichen und Studienplanung und Inspektionsprozesse unterstützen”, beschreibt die studierte Medizinerin den Anspruch des Vorhabens. Gerade entwickele ein Team zum Beispiel ein Modul, das für die Gewinnung von Studienteilnehmenden eingesetzt werden kann. Der Modulname „QuickQueck” ist dabei Programm, wie Projektbeauftragte Prof. Dr. Lena Illert erläutert: „QuickQueck ist eine Plattform, über die einerseits Ärztinnen und Ärzte schneller mögliche innovative Studien für ihre PatientInnen finden können. Zum anderen können sich aber auch Patientinnen und Patienten selbst über mögliche Studienangebote innerhalb von Deutschland informieren.” Am Universitätsklinikum Freiburg ist das Tool bereits in der Erprobung: Ausgestattet mit einer Schnittstelle zum Tumorbord-Online-System können Ärztinnen und Ärzte bei jeder Therapieentscheidung automatisiert die rekrutierenden Studien am Standort spezifisch für das jeweilige Krankheitsstadium abgleichen. „Klinikumsweit werden wir damit bald schon potenzielle Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer identifizieren und ansprechen können”, sagt Illert.
Auch an einem digitalen Dokumentenmanagement-System (DMS) arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. „Das DMS wird so konstruiert sein, dass Studienunterlagen elektronisch abgelegt und im gleichen Atemzug in eine archivkonforme Systematik gebracht werden können“, so Illert. Dafür sorgen sogenannte Standard Operating Procedures, kurz SOP. „Sie gewährleisten eine hohe Qualität und standardisierte Arbeitsweisen der Studienteams und ermöglichen es, die Unterlagen digital für kooperierende universitätsklinische Standorte nutzbar zu machen. Ein wirklicher Fortschritt in Sachen Effizienz und Ressourceneinsatz.”
Vorteile für Patienten, Forschung und Studienzentrum
Von einer digitalen ECTU und ihren neuen elektronischen Prozessen profitieren nach Aussage der Wissenschaftlerinnen alle Beteiligten: die Patientinnen und Patienten, das Zentrum für Klinische Studien und die gesamte Forschung. Viele Patientinnen und Patienten bevorzugten zum Beispiel heute eine digitale Abfrage, so zumindest die Erfahrung am Uniklinikum Freiburg. Sie seien damit nicht nur zufriedener, sie könnten auch per Erinnerungsfunktionen auf fällige Einträge hingewiesen werden. Auch das Studienzentrum selbst hat einen Vorteil von einer digitalen ECTU: Weil die Fragebögen und Tagebücher digital übertragen werden, können die Mitarbeitenden die Daten schneller und strukturiert abfragen, sie von Algorithmen auswerten lassen und an die verantwortlichen Stellen weiter übermitteln. Auch erlaubt das digitale Vorgehen ein Real-Time-Monitoring der Patientinnen und Patienten. „Wir erkennen so schneller, ob sie an Nebenwirkungen leiden oder ihre Compliance nachlässt”, sagt Melanie Börries.
Einen ersten Versuchsballon gibt es auch für dieses Technologiekonzept: ein digitaler Fragebogen, der die Nebenwirkungen unter anderem bei einer laufenden Chemotherapie abfragt. „Der Chemovigilanz-Fragebogen ist regelmäßig von den Studienteilnehmenden auszufüllen”, erklärt Illert. „Nun haben wir ihn als digitale Version entwickelt und können ihn über die „Meine Uniklinik”-App an die ECTU-Patientinnen und -Patienten übermitteln”, so die Oberärztin. Gehen dann Mitteilungen über Nebenwirkungen ein, hat das – neben der Information für die Studie – einen großen Sicherheitsvorteil: Die Ärztinnen und Ärzte können nun schnell reagieren, wenn es einer Patientin oder einem Patienten aufgrund einer unerwünschten Begleiterscheinung schlechter geht.
Höhere Arzneimittelsicherheit durch digitale Meldungen
Nach der Testphase soll der Fragebogen in der ECTU und Tagesklinik des Tumorzentrums genutzt werden können, ein weiterer Rollout über die gesamte Uniklinik ist geplant. Nicht zuletzt wird die digitale ECTU damit auch auf eine höhere Arzneimittelsicherheit einzahlen, wie Börries anmerkt: „Gesetzlich vorgeschriebene Meldungen zu Nebenwirkungen oder anderen arzneimittelbezogenen Problemen in klinischen Studien, die sogenannte Pharmakovigilanz, können dann über digitale Tools direkt an die relevanten Behörden übermittelt werden.”
Behörden akzeptieren klinisches Monitoring aus der Distanz nicht
Doch das ECTU-Digitalisierungsprojekt ist kein Selbstgänger. Im Gegenteil: Aktuell werden den Entwicklungen noch einige Grenzen gesetzt, vor allem, da eine digitale, plattformbasierte Zusammenarbeit mehrerer Prüfzentren nicht so ohne weiteres erlaubt ist, erklärt Lang: „Die gesetzliche Definition einer ‚Prüfstelle‘ setzt immer einen singulären physikalischen Standort voraus, das heißt, alle müssen denselben dokumentarischen Aufwand betreiben.” Das klinische Monitoring aus der Distanz, das sogenannte „remote monitoring”, sei zudem behördlich nicht akzeptiert und technisch auch noch nicht genug ausgereift.
Beirren lassen sich die Projektverantwortlichen davon nicht. Sie denken zukunftsgerichtet: Vorstellbar „und nur konsequent” wäre nach Lang etwa eine klinikübergreifende forschungskompatible Patientenakte, die sich automatisiert mit dem internen Studienregister abgleicht und den Studienleiterinnen und -leitern ein Signal sendet, wenn eine mögliche Studienteilnehmerin oder ein potenzieller Studienteilnehmer im System angelegt wird. „Auch den Ausbau von Nebenwirkungs-Fragebögen, wie dem Chemovigilanz-Fragebogen, über den Standort Freiburg hinaus an die vier weiteren Universitätsklinika mit Unterstützung eines Projekts des Zentrums für Innovative Versorgung (ZIV) peilen wir langfristig an”, sagt Melanie Börries. Daneben schwebt dem Team ein weiterer Ausbau der digitalen Prozesse vor, um künftig im Real-Time Setting notwendige Informationen direkt on-time an andere ECTUs übermitteln zu können. „Bei Überschreiten von individuell definierbaren Grenzwerten könnte das Studienpersonal dann direkt und aktiv eingreifen – auch bei Patientinnen und Patienten, die weiter von den Zentren entfernt leben.”
Angetrieben wird das Wissenschaftsteam um Börries von einer klaren Überzeugung: „Die Digitalisierung führt zusammengefasst zur Vereinfachung von Prozessen, zu einer nachhaltigen Nutzung von Ressourcen, zu mehr Transparenz über die Studienlandschaft gerade auch für die Patientinnen und Patienten, für die innovative Therapie-Ansätze existentiell sind”, bringt es die Professorin auf den Punkt. Und am Ende, so fügt sie hinzu, habe doch jede einzelne digitale Prozessumsetzung vor allem ein großes übergeordnetes Ziel: „Die optimale Betreuung und Sicherheit des Patienten mit neuen Therapiekonzepten.”